Werden in einem für Nährstoffeinträge empfindlichen FFH-Gebiet (Gebiet von gemeinschaftlicher Bedeutung) die naturwissenschaftlich begründeten Belastungsschwellen für den Eintrag von Stickoxiden (sogenannte „Critical loads“) bereits erreicht oder überschritten, so bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass Vorhaben, die zu weiteren Stickstoffeinträgen in dem Gebiet führen, unverträglich und damit eventuell unzulässig sind. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht in zwei Entscheidungen vom 10.11.2009 und vom 14.04.2010 klargestellt.
Gegenstand des Beschlusses vom 10.11.2009 (Az.: 9 B 28.09) war die Ortsumgehung des Hildesheimer Ortsteiles Himmelsthür. Das Oberverwaltungsgericht hatte als Vorinstanz die Rechtswidrigkeit des straßenrechtlichen Planfeststellungsbeschlusses festgestellt und damit begründet, dass durch die verkehrsbedingten Stickstoffeinträge ein nahegelegenes FFH-Gebiet mit empfindlichen Magerstandorten beeinträchtigt werde. Das Bundesverwaltungsgericht hat den Antrag der beklagten Landesstraßenbaubehörde auf Zulassung der Revision zurückgewiesen und dabei bekräftigt, dass prinzipiell jede Zusatzbelastung zur Unverträglichkeit eines Vorhabens mit den Erhaltungszielen eines FFH-Gebietes führt, wenn bereits die Vorbelastung die Belastungsgrenze ausschöpft oder diese sogar überschreitet.
Allerdings – so das Bundesverwaltungsgericht in dem Beschluss weiter – seien Fallgestaltungen vorstellbar, in denen sich das Gebiet trotz Hintergrundbelastungen oberhalb der critical loads aufgrund des verbliebenen, die Vorbelastung dauerhaft verkraftenden Artenspektrums immer noch in einem günstigen Erhaltungszustand befinde. Könne sich daran auch durch eine projektbedingte Zusatzbelastung nichts ändern, weil das verbliebene Artenspektrum auch die Gesamtbelastung schadlos toleriere, so sei die Zusatzbelastung mit dem Gebiet ausnahmsweise verträglich. Weitere Ausnahmen erachtet das Bundesverwaltungsgericht in Bagatellfällen für möglich, wenn von einer lediglich geringfügigen Zusatzbelastung eine Fläche des Lebensraumtyps betroffen sei, die sowohl absolut als auch in Relation zur Gesamtfläche dieses Lebensraumtyps im Schutzgebiet ohne Bedeutung sei.
In seinem Urteil vom 14.04.2010 (Az.: 9 A 5.08) hat das Bundesverwaltungsgericht diese Rechtsprechung weiter präzisiert und weiter entwickelt. In dem Verfahren ging es um die Klage eines anerkannten Naturschutzvereins gegen den Teilabschnitt Hessisch Lichtenau der Bundesautobahn A 44. Hier nimmt das Bundesverwaltungsgericht den Standpunkt ein, dass auch unabhängig vom Umfang der betroffenen Fläche für die Zusatzbelastung eine Irrelevanzschwelle anzuerkennen sei. Die Rechtfertigung hierfür ergebe sich aus dem Bagatellvorbehalt, unter dem jede Unverträglichkeit mit den Erhaltungszielen eines FFH-Gebietes stehe und der im gemeinschaftsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wurzele. Allerdings, so stellt das Bundesverwaltungsgericht klar, bedürfe die Anwendung von Irrelevanzschwellen einer sorgfältigen naturschutzfachlichen Rechtfertigung. Eine solche biete beispielsweise der Fachkonventionsvorschlag des Kieler Instituts für Landschaftsökologie, der unabhängig vom betroffenen Flächenumfang eine Irrelevanzschwelle von 3 % des critical loads für die Zusatzbelastung vorsehe. Ausweislich dieser naturschutzfachlich fundierten Ausarbeitung bestehe mittlerweile ein fachwissenschaftlicher Konsens darüber, dass Zusatzbelastungen von nicht mehr als 3 % des critical loads außer Stande seien, signifikante Veränderungen des Ist-Zustandes auszulösen oder die Wiederherstellung eines günstigen Zustandes signifikant einzuschränken. Da in dem zur Entscheidung anstehenden Fall die Zusatzbelastung deutlich unter der Irrelevanzschwelle von 3 % des critical loads lag, hat das Bundesverwaltungsgericht das Vorhaben trotz Überschreiten der critical loads durch die Vorbelastung für zulässig erachtet.
Die Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts zeigen, dass vorhabenbedingte Stickstoffimmissionen in einem bereits bis zur Belastungsschwelle vorbelasteten FFH-Gebiet nicht zwangsläufig zur Unverträglichkeit des Vorhabens mit dem FFH-Gebiet führen. Allerdings ist eine sorgfältige gutachterliche Aufarbeitung erforderlich, wenn einer der vom Bundesverwaltungsgericht aufgezeigten Ausnahmefälle dargelegt werden soll.