EU-Justizkommissarin Věra Jourová hat am 11.4.2018 den Entwurf zu einem Spielbild der im US-Recht gängigen Sammelklagen vorgestellt. Der Entwurf sieht vor, dass zukünftig „qualifizierte Institutionen“ – so sollen z. B. Verbraucherverbände entsprechend qualifiziert sein – künftig in der gesamten EU stellvertretend für Geschädigte auf Unterlassung oder Schadensersatz klagen können.
Diese qualifizierten Institutionen sollen zukünftig kein Mandat mehr benötigen, sondern anlassbezogen selbstständig Klagen anstrengen können. Einzige Einschränkung soll sein, dass die Organisationen nicht profitorientiert arbeiten dürfen und Finanzierungen durch Dritte offenlegen und von einem Gericht absegnen lassen müssen. Zudem unterscheidet der EU-Vorschlag einfache Fälle, in denen viele Verbraucher ähnliche Interessen verfolgen, und komplexere mit unterschiedlicher Gemengelage bei den Klägern. In letzteren sollen europaweite Sammelklagen nur bedingt einsetzbar sein.
Das EU-Parlament und die Mitgliedstaaten müssen dem Vorschlag der Kommission noch zustimmen. Bereits im Vorfeld haben Industrieverbände den Entwurf scharf kritisiert. So hat beispielsweise der Verband der Chemischen Industrie e. V. in seiner Informationsbroschüre „Sammelklagen im Verbraucherrecht“ vom 1.3.2018 unter Bezugnahme auf statistische Erhebungen aus den USA ausgeführt:
„Je höher die Zahl – auch geringfügig – Geschädigter und je geringer die Zulässigkeitshürden für die Bündelung von Ansprüchen, desto höher die Attraktivität dieser Verfahren für Rechtsanwälte, Gutachter und prozessfinanzierende Organisationen. (…) Erfahrungen mit dem us-amerikanischen System zeigen, dass das Erheben von Einwendungen gegen die Zulassung von Sammelklagen („class actions“) bereits Kosten in Höhe von 10 Millionen US-Dollar bei den von Sammelklagen Betroffenen verursachen.“
Einzige Gewinner der „Europäischen Sammelklage“ werden international organisierte Wirtschaftskanzleien und Prozessfinanzierer sein. Die klassische Rechtsanwaltsbranche würde sich wohl zu Gunsten einer kaum kontrollierbaren, nicht zwangsweise deutschen, Klageindustrie verändern. Auch millionen Rechtsschutzversicherungspolicen würden überflüssig. Tatsächlich ist auch in Europa der Aufbau einer Klageindustrie bereits in vollem Gang. Parallel plant die Bundesregierung die Einführung der sog. Musterfeststellungklage. Diese unterschiedet sich dadurch von der „Europäischen Sammelklage“, dass Geschädigte nach Eintragung in ein Klageregister mittelbar am Verfahren beteiligt werden. Wie im deutschen Recht üblich, soll es bei Musterfeststellungsklagen weiterhin auf das Individualinteresse des Geschädigten ankommen.
Bestrebungen, „Europäische Sammelklagen“ zuzulassen, sind daher kritisch zu sehen. Mit ihr würde eine neue, von Prozessfinanzierern geprägte, Klageindustrie entstehen. Möglicherweise Geschädigte würden – ob sie wollen oder nicht – aktiv angeworben, um Erpressungspotential gegen Industrieunternehmen aufzubauen und am Ende – am Beispiel USA – an Einnahmen erheblich beteiligt zu werden.
Dr. Dennis Geissler
Jürgen Heilbock, LL. M. (Georgetown)
jeweils Partner
Litigation-Praxisgruppe von avocado rechtsanwälte