Das Verwaltungsgericht Lüneburg hatte aufgrund einer Verweisung des OLG Celle über eine Direktvergabe von Rettungsdienstleistungen zu entscheiden. Hierdurch kam es nun zu einer ersten Entscheidung eines Verwaltungsgerichts zu der Frage, ob die Anwendung der Bereichsausnahme Rettungsdienst auch eine landesgesetzliche Regelung voraussetzt, welche die Privilegierung von gemeinnützigen Organisationen zulässt.
In dem zu entscheidenden Fall hatte ein niedersächsischer Landkreis bereits im Jahr 1993 zwei gemeinnützige Organisationen mit der Durchführung des Rettungsdienstes und des qualifizierten Krankentransportes durch entsprechende Verträge beauftragt. Im Jahr 2022 musste ein privates Krankentransportunternehmen, das auf Grundlage einer Genehmigung nach § 19 NRettDG Krankentransport durchgeführt hatte, aufgeben. Diesen Wegfall wollte der Träger – ohne Durchführung eines Vergabeverfahrens – dadurch kompensieren, dass die Altverträge erweitert werden sollten. Ein privates Rettungsdienstunternehmen ging gegen diese Erweiterung vor, da sie diese für eine unzulässige „De-Facto-Vergabe“ hielt. Hierzu leitete es in einem ersten Schritt ein Vergabenachprüfungsverfahren ein. Das Unternehmen unterlag sowohl vor der Vergabekammer Lüneburg als auch dem OLG Celle, da sich beide Instanzen aufgrund des vermeintlichen Vorliegens der Bereichsausnahme Rettungsdienst gemäß § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB für unzuständig erklärten. In der Folge wurde der Rechtsstreit vom OLG Celle an das VG Lüneburg verwiesen.
Das VG Lüneburg kam nun – anders als die Vergabekammer und das OLG – zu dem Schluss, dass die Bereichsausnahme in Niedersachsen nicht anwendbar sei. Zur Begründung stützte es sich auf einen Beschluss des OVG Lüneburg aus dem Jahre 2019 (Beschl. v. 12.06.2019 – 13 ME 164/19).
Das OVG hatte in diesem Beschluss festgestellt, dass die gesetzlich in § 5 Abs. 1 NRettDG vorgesehene Gleichrangigkeit von gemeinnützigen und gewerblichen Anbietern der Anwendbarkeit der Bereichsausnahme des § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB entgegenstehe. Denn im Gegensatz zu Rettungsdienstgesetzen anderer Bundesländer fehle insbesondere eine Privilegierung der gemeinnützigen Hilfsorganisationen gegenüber gewerblichen Anbietern.
Zwar hatte der niedersächsische Gesetzgeber nach dieser Entscheidung das NRettDG neugefasst, indem er in § 5 Abs. 2 S. 2 aufgenommen hatte, dass „§ 107 Abs. 1 Nr. 4 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen […] unberührt“ bleibe. Diese Ergänzung genügte dem VG Lüneburg jedoch nicht, um die notwendige Privilegierung gemeinnütziger Anbieter zu ermöglichen. Vielmehr sei der Wortlaut des § 5 Abs. 2 Satz 2 NRettDG dahingehend auszulegen, dass § 5 NRettDG und § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB nebeneinanderstünden. Weder der Wortlaut, die Systematik oder die Gesetzesbegründung zum NRettDG würden dazu führen, dass die in § 5 Abs. 1 NRettDG weiterhin vorgesehene Gleichrangigkeit der Anbieter beeinflusst oder gar aufgehoben worden sei. In der Folge fehle es in Niedersachsen an der für die Anwendbarkeit der Bereichsausnahme erforderlichen landesrechtlichen Privilegierung gemeinnütziger Anbieter, sodass § 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB in Niedersachsen keine Anwendung finden könne.
Diese Feststellung des VG Lüneburg überrascht vor dem Hintergrund der zahlreichen gegenläufigen vergaberechtlichen Entscheidungen. Daneben lässt sich der Entscheidung jedoch noch eine weitere bemerkenswerte Feststellung des Gerichts entnehmen, welche sich durchaus als Paukenschlag beschreiben lässt. Denn das VG verpflichtet im konkreten Fall den Träger sogar zur Kündigung des auf unbestimmte Dauer geschlossenen Altvertrages. Das VG Lüneburg ist insoweit der Ansicht, dass die bloße Existenz von Endlosverträgen – wie der hier in Rede stehende Altvertrag aus dem Jahr 1993 – zwangsläufig zu einer massiven Grundrechtsverletzung der nicht am Vertrag beteiligten Leistungserbringer führt. Denn diesen werde dauerhaft die Möglichkeit verwehrt, sich um diese durch die Endlosverträge dem Wettbewerb entzogenen Aufträge zu bewerben. Die sich hierdurch ergebende Verletzung des Grundrechts der Berufsfreiheit wiegt nach Ansicht des VG Lüneburg so schwer, dass der Träger aufgrund einer Ermessensreduzierung auf Null dazu verpflichtet ist, ein im Altvertrag vorgesehenes ordentliches Kündigungsrecht auch auszuüben.
Für den Träger in dem Fall bedeutet dies, dass nicht nur die durchgeführte Vertragserweiterung unwirksam ist, er muss vielmehr auch die der Erweiterung zugrunde liegenden Altverträge insgesamt kündigen und damit in der Folge seinen gesamten Rettungsdienstbedarf in einem europaweiten Kartellvergabeverfahren neu ausschreiben.
Die Entscheidung hat weitreichende Folgen für niedersächsische Rettungsdienstträger. Solange eine anderslautende Berufungsentscheidung durch das OVG Lüneburg aussteht, scheint eine rechtssichere Anwendung der Bereichsausnahme in Niedersachsen wohl nicht möglich.
Sollte die Ansicht des VG Lüneburg insgesamt bestätigt werden, dann könnten Rettungsdienstträger zudem zur Kündigung ihrer Altverträge verpflichtet werden.
Für Träger, die aktuell vor der Frage stehen, ob Bestandsverträge erweitert oder beendete Verträge neu vergeben werden sollen, bleibt als rechtssichere Alternative im Moment wohl nur die Durchführung eines europaweiten Vergabeverfahrens.
Dies gilt umso mehr, wenn man die Wirksamkeit der Bestandsverträge nicht gefährden will.
Ob der niedersächsische Gesetzgeber bereits auf diese verwaltungsgerichtliche Entscheidung mit einer Gesetzesanpassung reagiert, bleibt abzuwarten.
Haben Sie Fragen hierzu? Fragen Sie uns!