EU-Richtlinien sind an die EU-Mitgliedstaaten gerichtet und erzeugen daher nach ihrer Konzeption auch nur für diese Rechtswirkungen.
Erst nach ihrer Umsetzung in innerstaatliches Recht begründen sie auch für die einzelnen Bürger unmittelbare Rechte und Pflichten. So sieht es der EG-Vertrag vor - seit langem hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) jedoch anerkannt, dass eine Richtlinie unter bestimmten Voraussetzungen ausnahmsweise auch unmittelbare Wirkung im innerstaatlichen Bereich haben kann. Dies hat zur Folge, dass sich ein Bürger einem Mitgliedstaat gegenüber direkt auf eine von dem betreffenden Staat nicht oder fehlerhaft umgesetzte Richtlinie berufen kann. Auch (noch) nicht umgesetzte Richtlinien mit rein objektivem Charakter - also solche, die dem Einzelnen keine individuellen Rechte einräumen - können unter Umständen im innerstaatlichen Recht direkt wirken. Während also schon bisher anerkannt war, dass sich Private gegenüber dem Staat - in einem vertikalen Verhältnis - auf die unmittelbare Geltung von Richtlinien berufen können, galt dies im horizontalen Verhältnis, also beim Streit unter Privatleuten gerade nicht.
Gelten EU-Richtlinien zukünftig auch (unmittelbar) zwischen Privatleuten?
Nach einer aktuellen Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 05.10.2004, Rs. C-397/01) wird unter Europarechtlern davon ausgegangen, dass der Gerichtshof die Doktrin von der Nichtgeltung der Richtlinien zu Lasten Privater zumindest aufgeweicht hat. Anlass hierzu gab eine Vorlage des Arbeitsgerichts Lörrach, die die Arbeitszeit von Rettungssanitätern des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) problematisierte. DRK-Sanitäter hatten bei dem Arbeitsgericht gegen die Arbeitszeitregelung in ihren Arbeitsverträgen geklagt. Die Arbeitsverträge verwiesen auf den DRK-Tarifvertrag und dieser sah - gestützt auf das Arbeitszeitgesetz - eine wöchentliche Durchschnittsarbeitszeit von 49 Stunden vor. Die Sanitäter waren der Meinung, dies verstoße gegen die EU-Arbeitszeitrichtlinie, der zufolge die Höchstarbeitszeit im Regelfall 48 Stunden beträgt. Das Arbeitsgericht Lörrach wandte sich daher an den EuGH.
Generalanwalt und EuGH "richtlinienfreundlich"
Der Generalanwalt plädierte in seinen Schlussanträgen für eine einschränkende Auslegung des Tarifvertrages dahingehend, dass er nur eine durchschnittliche Arbeitszeit von 48 Stunden zulasse. Der Tarifvertrag müsse so interpretiert werden, dass die Sanitäter nicht verpflichtet seien, durchschnittlich mehr als 48 Stunden wöchentlich zu arbeiten. Der Gerichtshof übernimmt diese Formulierung in der Entscheidung nicht ausdrücklich, unterstreicht jedoch, dass das vorlegende Gericht alles tun muss, was in seiner Zuständigkeit liegt, um die Überschreitung der in der Richtlinie festgelegten wöchentlichen Höchstarbeitszeit von 48 Stunden zu verhindern. Im Ergebnis kann daher davon ausgegangen werden, dass das EuGH-Urteil im Sinne der Schlussanträge des Generalanwaltes verstanden werden muss und daher die durchschnittliche Wochenarbeitszeit 48 Stunden tatsächlich nicht überschreiten darf. Dies hat spürbare Folgen für die deutsche Arbeitszeitregelungen: Bereitschaftsdienste, die zusammen mit der regulären Arbeitszeit über 48 Wochenstunden hinaus gehen, sind nach der Rechtsprechung des EuGH unzulässig. Auch die Bestimmungen über Bereitschaftsdienste im Bundesangestellten-Tarifvertrag müssen hiernach auf das richtlinienkonforme Maß beschränkt werden.
Unmittelbare Geltung der Richtlinie durch die Hintertür?
Zur Geltung der Richtlinie kommt der EuGH dabei über einen Umweg: Zunächst betont auch er ausdrücklich, dass eine Richtlinienbestimmung in einem Rechtsstreit, in dem sich ausschließlich Private gegenüberstehen, als solche keine Anwendung finden kann. Zugleich hebt der Gerichtshof jedoch die sich aus einer Richtlinie ergebende Verpflichtung der Mitgliedstaaten hervor, das in dieser Richtlinie vorgesehene Ziel zu erreichen und alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderen Art zu treffen. Diese Verpflichtung treffe insbesondere die nationalen Gerichte. Sie müssten bei der Anwendung des innerstaatlichen Rechts, insbesondere der Bestimmungen einer speziell zur Umsetzung der Vorgaben einer Richtlinie erlassenen Regelung, daher das innerstaatliche Recht soweit wie möglich anhand des Wortlauts des Zwecks dieser Richtlinie auslegen, um das in ihr festgelegte Ergebnis zu erreichen und so den gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten nachzukommen. Damit stellt der EuGH letztlich eine indirekte Verpflichtungswirkung von Richtlinien auf.
Nationale Gerichte keine Ersatzgesetzgeber
Nationale Gerichte müssen hiernach auch in Auseinandersetzungen zwischen Privaten innerstaatliche Vorschriften unangewendet lassen, wenn diese EU-Richtlinien widersprechen und die Kollision im Wege der Auslegung nicht zu beheben ist. Dadurch kann es Einzelnen verwehrt werden, sich auf Bestimmungen im nationalen Recht zu berufen, die für sie günstig sind. Die Betroffenen werden damit zwar nicht unmittelbar durch die jeweilige Richtlinie belastet, wohl aber durch deren indirekte Wirkung. Allerdings hat der Gerichtshof immer wieder deutlich gemacht, dass die nationalen Gerichte sich dabei im Rahmen ihrer Zuständigkeit halten müssten. Sie dürfen also nicht zum Ersatzgeber werden. Wo eine EU-Richtlinie dem Gesetzgeber großen Spielraum lässt, können die Gerichte deshalb in aller Regel wenig ausrichten. Die Gerichte sind aber berechtigt - und verpflichtet, eine richtlinienwidrige Vorschrift außer acht zu lassen, wenn sich der jeweilige Streitfall mit Hilfe anderer nationaler Bestimmungen lösen lässt.
Baut der Gerichtshof diese Rechtsprechung weiter aus?
Ein Vorabentscheidungsverfahren, das den italienischen Ministerpräsidenten Berlusconi betrifft, könnte dem Gerichtshof schon bald Gelegenheit geben, seine "richtlinienfreundliche" Rechtsprechung weiter auszubauen. Nach Ansicht der Generalanwältin Kokott muss eine - für Berlusconi günstige - Änderung italienischen Strafrechts unangewendet bleiben, wenn sie EU-Richtlinien widerspricht. Nach Einschätzung italienischer Strafgerichte ließe diese Gesetzesänderung den wegen Bilanzfälschung angeklagten Berlusconi straffrei ausgehen. Eine Richtlinie soll nach Auffassung der Generalanwältin nun bewirken, dass diese nationale Rechtsänderung unwirksam ist. Wenn der EuGH dem folgt, fände eine nicht umgesetzte EU-Richtlinie eindeutig zu Lasten Privater Berücksichtigung. Ein echtes Novum.