EuGH-Entscheidung zur Rechtsmittelrichtlinie 89/665/EWG: Das Aus für das Tatbestandsmerkmal der „Unverzüglichkeit“ in § 107 Abs. 3 Nr. 1 GWB ?
Mit Urteil vom 28.01.2010 (Rs. C-406/08) hat der EuGH in einem gegen Irland geführten Vertragsverletzungsverfahren festgestellt, dass Irland die Bestimmungen der Rechtsmittelrichtlinie 89/665/EWG nicht wirksam umgesetzt habe, indem es eine gesetzliche Regelung erlassen habe, auf deren Grundlage ein nationales Gericht einen vergaberechtlichen Nachprüfungsantrag wegen Fristversäumnis zurückweisen könne, wenn der Antrag nicht „so früh wie möglich und jedenfalls innerhalb von drei Monaten nach Eintreten der Gründe für den Antrag“ gestellt worden sei. Zwar sei es gerechtfertigt, dass ein Mitgliedstaat die Betroffenen im Rahmen der Umsetzung der Rechtmittelrichtlinie zu Sorgfalt und Schnelligkeit bei der Einreichung eines Nachprüfungsantrages verpflichte. Art. 1 Abs. 1 der Richtlinie 89/665/EWG verlange aber, dass die Länge einer Ausschlussfrist für den Betroffenen von vorne herein vorhersehbar und nicht in das Ermessen des zuständigen Gerichts gestellt sei. Eine Regelung, die diesen Vorgaben nicht gerecht werde, widerspreche den Geboten der Klarheit und Bestimmtheit, wie sie die Rechtsmittelrichtlinie für nationale Rechtsmittelfristen fordere.
Auch § 107 Abs. 3 Nr. 1 GWB offensichtlich EU-rechtswidrig
Die Ähnlichkeit der vom EuGH beanstandeten, irischen Regelung mit dem deutschen Nachprüfungsverfahrensrecht liegt auf der Hand. Denn auch in Deutschland gibt es mit § 107 Abs. 3 Nr. 1 GWB eine Ausschlussklausel für verfristete Nachprüfungsanträge, die sich mit der Forderung nach einer „Unverzüglichkeit“ der Rüge gegenüber der Vergabestelle auf einen unbestimmten Rechtsbegriff stützt. Der Bieter erfährt auch hier erst im Nachprüfungsverfahren selbst, ob sein Rechtsbehelf Aussicht auf Erfolg hat oder aber nach Ansicht des Gerichts bzw. der Vergabekammer bereits als unzulässig abgewiesen werden muss. Auch wenn sich die unbestimmte Frist im deutschen Verfahrensrecht freilich, anders als bei der irischen Regelung, nicht auf die Einleitung des Nachprüfungsverfahrens selbst, sondern auf die vorgelagerte Rüge bezieht, dürfte diese Regelung damit nach den vom EuGH aufgestellten Maßstäben EU-rechtswidrig sein.
Auswirkungen des Urteils auf die Entscheidungspraxis in Deutschland
Auch wenn damit deutliche Anhaltspunkte dafür bestehen, dass §107 Abs. 3 Nr. 1 GWB gegen die EG-Rechtsmittelrichtlinie verstößt, hat das Urteil zunächst jedenfalls keine unmittelbaren Auswirkungen auf das deutsche Recht und die Entscheidungspraxis der deutschen Nachprüfungsinstanzen. Denn das Urteil des EuGH entfaltet direkte Wirkungen nur gegenüber Irland, dessen gesetzliche Regelung für EU-rechtswidrig erklärt worden ist. In der Folge muss Irland nunmehr alle Maßnahmen ergreifen, um den Vertragsverstoß abzustellen, insbesondere die EU-rechtswidrige Fristenregelung überarbeiten.
Möglich erscheint jedoch, dass das EuGH-Urteil zumindest indirekte Wirkungen in Deutschland entfaltet. So dürften nämlich nunmehr die Vergabekammern berechtigt und die Vergabesenate gar verpflichtet sein, den EuGH im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens zu ersuchen, über die Vereinbarkeit des § 107 Abs. 3 Nr. 1 GWB mit EU-Recht zu entscheiden, soweit es in einem Einzelfall auf diese Fristenregelung ankommen sollte. Zwar ist zu berücksichtigen, dass EU-Recht widersprechendes, nationales Recht nur dann von den nationalen Behörden und Gerichten unangewendet gelassen werden darf, wenn die widersprechende Bestimmung des europäischen Rechts Direktwirkung im nationalen Recht entfaltet. Dass Art. 1 Abs. 1 der Rechtsmittelrichtlinie eine solche Direktwirkung zukommen kann, hat der EuGH jedoch bereits in zwei anderen Verfahren entschieden (EuGH, Urt. v. 11.07.2007, C-241/06 und Urt. v. 02.06.2005, C-15/04).
GWB-Gesetzgeber gefordert
Da die dauerhafte Anwendbarkeit des § 107 Abs. 3 Nr. 1 GWB damit nicht mehr gesichert ist und Deutschland vor dem Hintergrund der EuGH-Rechtsprechung außerdem – wenn auch bisher nur abstrakt – ebenfalls ein von der Kommission eingeleitetes Vertragsverletzungsverfahren droht, dürfte der deutsche Gesetzgeber hinreichenden Anlass sehen, die fragliche Bestimmung schnellstmöglich zu überarbeiten. Bis zu einer entsprechenden Überarbeitung des GWB oder einer Vorlage an den EuGH ist die Rechtslage unsicher. Bieter sollten Rügen bis zu einer endgültigen Klärung deshalb weiterhin „unverzüglich“ im Sinne der bisherigen Auslegungspraxis vorbringen, Vergabestellen sollten erwägen, in den Verdingungsunterlagen selbst den Begriff der „Unverzüglichkeit“ den Anforderungen der Rechtsmittelrichtlinie entsprechend zu definieren.