Im deutschen Recht kann bislang eine einmal bestandskräftig gewordene Verwaltungsentscheidung nur in Ausnahmefällen beseitigt werden. Nach dem Verwaltungsverfahrensrecht sind Behörden berechtigt, bestandskräftige Verwaltungsakte aufzuheben, wenn dadurch keine Rechte Dritter verletzt werden. Aus diesem Recht wird nach der Entscheidung des Gerichtshofs eine Pflicht, sollte sich später herausstellen, dass der Verwaltungsakt im Widerspruch zu Vorschriften des Europarechts erlassen worden ist.
Europarechtskonforme Anwendung des deutschen Verwaltungsverfahrensrechts erforderlich
In dem von dem Gerichtshof entschiedenen Fall hatte ein niederländisches Unternehmen zunächst Ausfuhrerstattungen für den Export von Geflügelfleisch erhalten. Später musste es das Geld jedoch zurückzahlen, weil es die Ware nach Ansicht der Behörden nicht der zutreffenden Position des gemeinsamen Zolltarifs zugeordnet hatte. Die Klage gegen diese Rückzahlungsanordnung blieb ohne Erfolg. Zu einer Vorlage beim Europäischen Gerichtshof kam es nicht. In einem späteren Verfahren, an dem das niederländische Unternehmen gar nicht beteiligt war, legte der EuGH die Zollvorschriften jedoch im Sinne dieses Unternehmens aus. Daraufhin verlangte es die Ausfuhrerstattungen erneut von der Behörde, die es seiner Meinung nach zu Unrecht hatte zurückzahlen müssen. Das Unternehmen berief sich dabei darauf, dass auch nach niederländischem Recht sowohl bestandskräftige Verwaltungsakte als auch rechtskräftige Urteile unter bestimmten Umständen nachträglich abgeändert werden könnten. Die Behörde war dagegen der Auffassung, ein Urteil des EuGH sei kein Umstand, der zwingend zur Aufhebung einer früheren Entscheidung führen müsse und berief sich überdies auf die Bestandskraft der Rückforderungsentscheidung. Hiergegen richtete sich die Klage des niederländischen Geflügelexporteurs. Das zuständige Gericht ging zwar auch von dem Grundsatz aus, dass eine gerichtliche Entscheidung, die nach Eintritt der Bestandskraft einer Verwaltungsentscheidung ergeht, als solche diese Verwaltungsentscheidung nicht berührt. Dies gelte auch für Vorabentscheidungen des EuGH, die festlegten, wie die entsprechende Regelung hätte angewandt werden müssen, sofern der EuGH nicht ausdrücklich etwas anderes entscheide. Müssten bestandskräftige Verwaltungsentscheidungen regelmäßig an spätere gerichtliche – im konkreten Fall gemeinschaftsgerichtliche – Entscheidungen angepasst werden, so würde dies nach Auffassung des Gerichts zu einem Verwaltungschaos führen und die Rechtssicherheit erheblich beeinträchtigen, was nicht hinnehmbar sei. Dennoch rief das Gericht den EuGH an, um klären zu lassen, ob in dem konkreten Fall eine Ausnahme von der Bestandskraft des Rückzahlungsbescheids gemacht und er nachträglich aufgehoben werden müsse. Eben dies bejaht der EuGH, obwohl er zunächst die Bedeutung der Bestandskraft, die zur Wahrung der Rechtssicherheit dient, ausdrücklich anerkennt. Er formuliert aber vier Voraussetzungen, unter denen die Behörde tatsächlich zur Rücknahme ihrer (bestandskräftigen) Verfügung verpflichtet ist: Zunächst muss die Behörde die rechtliche Befugnis zur Rücknahme besitzen, zweitens muss die Bestandskraft aufgrund eines letztinstanzlichen Urteils eingetreten sein, das drittens auf einer falschen Auslegung des Gemeinschaftsrechts und darauf beruht, dass das letztinstanzliche Gericht seiner Vorlagepflicht nach Art. 234 des EG-Vertrages an den EuGH nicht nachgekommen ist und schließlich muss sich der Betroffene an die Verwaltungsbehörde gewendet haben, sobald er von dem für ihn günstigen EuGH-Urteil erfahren hat.
Handlungsbedarf auch in längst abgeschlossenen Verwaltungsverfahren?
Betroffene einer ungünstigen Verwaltungsentscheidung bringt das EuGH-Urteil damit oft unverhofft in eine komfortable Situation: Obwohl alle Instanzen die betreffende Entscheidung bestätigt und dabei zu Unrecht den EuGH zur Klärung der strittigen Rechtsfrage nicht angerufen haben, zwingt ein günstiges späteres EuGH-Urteil die Behörde von Amts wegen zur Korrektur des betreffenden Bescheides. Ist die Übereinstimmung eines Verwaltungsaktes mit dem Europarecht strittig, sollten die Betroffenen daher entsprechende Rechtsberatung einholen und gegebenenfalls einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens stellen, um die Behörde von der jeweiligen EuGH-Rechtsprechung in Kenntnis zu setzen und den Anforderungen des Gerichtshofs auf jeden Fall Genüge zu tun.