Erfolgt eine Zielvorgabe erst nach Ablauf von drei Vierteln des Geschäftsjahres, für das die Zielvorgabe gelten soll, so ist sie so zu behandeln, als sei sie überhaupt nicht erfolgt. Ein Arbeitnehmer hat in diesem Fall Anspruch auf Schadensersatz. Dies hat das LAG Nürnberg mit Urteil vom 26.04.2024 (Az. 8 Sa 292/23) entschieden.
Sachverhalt
Auf das Arbeitsverhältnis mit der klagenden Arbeitnehmerin fand ein Bonussystem Anwendung, das vorsah, dass der Arbeitgeber der Arbeitnehmerin für das jeweilige Geschäftsjahr Unternehmensziele vorgibt. Eine Regelung, bis wann die Unternehmensziele aufzustellen waren, enthielt das Bonussystem nicht. In dem Jahr, für das die Arbeitnehmerin eine höhere Bonuszahlung geltend machte, hatte der Arbeitgeber die Unternehmensziele Ende Oktober veröffentlicht und rechnete den Bonus anhand der anteiligen Zielerreichung ab. Die Arbeitnehmerin begehrte letztlich gerichtlich eine Bonuszahlung bei unterstellter Zielerreichung der Unternehmensziele in Höhe von 100%.
Entscheidung des Gerichts
Das LAG Nürnberg bejahte den Anspruch der Arbeitnehmerin. Das Gericht nahm an, dass die Zielvorgabe ihre Anreizfunktion nur erfüllen könne, wenn die Arbeitnehmerin die von ihr zu verfolgenden Ziele bereits bei Ausübung ihrer Tätigkeit im entsprechenden Geschäftsjahr kenne. Erfolge die Zielvorgabe jedoch erst derart spät im Geschäftsjahr, dass sie ihre Anreizfunktion nicht mehr sinnvoll erfüllen könne, so sei sie nach Auffassung des LAG Nürnberg so zu behandeln, als sei die Zielvorgabe überhaupt nicht erfolgt. Ein derart später Zeitpunkt sei jedenfalls dann anzunehmen, wenn das Geschäftsjahr bereits zu mehr als drei Vierteln abgelaufen sei. Das Gericht schloss sich damit einer erst kurz zuvor ergangenen Entscheidung des LAG Köln (Urt. v. 06.02.2024, Az. 4 Sa 390/23) an.
Rechtsfolge einer unterbliebenen und einer dieser gleichzusetzenden zu spät erfolgten Zielvorgabe ist nach Auffassung des LAG Nürnberg, dass die Arbeitnehmerin einen Schadensersatzanspruch nach § 280 Abs. 3 BGB gegen den Arbeitgeber hat, weil die einseitige Zielvorgabe durch Zeitablauf unmöglich geworden ist. Der Schadensersatz erfasse auch den entgangenen Gewinn im Sinne des § 252 BGB. Es sei – wie im Fall einer unterbliebenen Zielvereinbarung – davon auszugehen, dass ein Arbeitnehmer vereinbarte Ziele erreicht hätte, wenn nicht besondere Umstände diese Annahme ausschlössen. Daher sei hinsichtlich der Höhe des Schadensersatzes von dem Bonus auszugehen, den die Arbeitnehmerin bei einer 100%-igen Zielerreichung erhalten hätte. Anders als bei einer unterbliebenen Zielvereinbarung sei bei einer einseitigen Zielvorgabe auch kein Raum für ein etwaiges anspruchsminderndes Mitverschulden der Arbeitnehmerin.
Bewertung und Praxishinweise
Die vom LAG Nürnberg beantworteten Fragen, ob eine unterbliebene Zielvorgabe einen Schadensersatzanspruch auslöst und ob dies auch für eine zu spät erfolgte Zielvorgabe gilt – und, falls ja, wann eine solche „zu spät“ erfolgt –, hatte das BAG bislang nicht zu entscheiden.
Der Entscheidung des LAG Nürnberg ist zunächst im Hinblick auf die Bejahung des Schadensersatzanspruchs bei einer unterbliebenen Zielvereinbarung zuzustimmen. Die Gegenansicht, die sich auf § 315 Abs. 3 Satz 2 Alt. 2 BGB stützt, wonach im Falle einer verzögerten einseitigen Leistungsbestimmung eine (nachträgliche) Bestimmung durch Urteil zu erfolgen hat, überzeugt nicht, zumal eine nachträgliche Zielvorgabe keine Motivationswirkung entfalten kann. Unterlässt ein Arbeitgeber es entgegen vertraglicher Absprache, dem Arbeitnehmer ein Angebot für eine Zielvereinbarung zu unterbreiten, so löst dies nach der Rechtsprechung des BAG einen Schadensersatzanspruch aus. Es erscheint nur sachgerecht, den Fall einer unterbliebenen Zielvorgabe ähnlich zu behandeln. Hinsichtlich der Höhe des Schadensersatzanspruchs wird auch bei einer unterlassenen Zielvereinbarung grundsätzlich davon ausgegangen, dass der Arbeitnehmer die Ziele zu 100% erreicht hätte. Richtig ist schließlich die Erwägung des Gerichts, dass sich die Frage des anspruchsmindernden Mitverschuldens des Arbeitnehmers bei einer Zielvorgabe, anders als bei einer Zielvereinbarung, die eine Mitwirkung des Arbeitnehmers erfordert, nicht stellt. Zielvorgaben werden allein vom Arbeitgeber im Rahmen eines einseitigen Leistungsbestimmungsrechtes nach § 315 Abs. 1 BGB getroffen.
Die Erwägung, dass eine zu spät erfolgte Zielvorgabe ihre Anreizfunktion nicht mehr entfalten kann und deshalb mit einer unterbliebenen Zielvorgabe gleichzusetzen ist, verdient ebenfalls Zuspruch. In der Kommentarliteratur wird teilweise vertreten, dass bereits eine Zielvorgabe, die erst nach der Hälfte der Zielperiode gemacht wird, „zu spät“ erfolgt und die Schadensersatzpflicht begründet. Die Entscheidung des LAG Nürnberg ist noch nicht rechtskräftig, es wurde Revision eingelegt. Es ist davon auszugehen, dass das BAG die Entscheidung des LAG Nürnberg bestätigen wird. Abzuwarten bleibt, ob das BAG sich über den Einzelfall hinaus dazu äußern wird, ab wann genau eine Zielvorgabe „zu spät“ erfolgt (z.B. bereits ab der Hälfte der Zielperiode).
In Anbetracht der genannten Rechtsprechung ist Arbeitgebern zu empfehlen, Arbeitnehmern Zielvorgaben möglichst zu Beginn der Zielperiode (z.B. dem Geschäftsjahr) zu erteilen. Hierbei hat der Arbeitgeber billiges Ermessen gemäß § 315 Abs. 1 BGB zu wahren, die erteilten Ziele müssen für den Arbeitnehmer insbesondere erreichbar sein. Die Möglichkeit des Arbeitgebers, dem Arbeitnehmer Ziele einseitig vorzugeben, geht zugleich mit einem bedeutenden Nachteil einher: die Einhaltung der Grenzen des billigen Ermessens ist gerichtlich voll überprüfbar (vgl. § 315 Abs. 3 BGB). Bei einer Zielvereinbarung bedarf es dagegen zwar der Mitwirkung des Arbeitnehmers, und die Vereinbarung muss insbesondere transparent sein, eine Billigkeitskontrolle erfolgt ob der gemeinsamen Festlegung der Ziele indes grundsätzlich nicht.
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