Das Oberverwaltungsgericht Münster hat sich in einer aktuellen Entscheidung (Urteil vom 17.05.2022, Az. 9 A 1019/20, Volltext hier) mit den Kalkulationsgrundlagen bei der Erhebung von Abwassergebühren beschäftigt und dabei eine Kehrtwende zu seiner bisherigen Rechtsprechung vollzogen.
Die Entscheidung ist von grundlegender Bedeutung sowohl für die Kommunen als auch für die Gebührenzahler von Abwassergebühren. Darüber hinaus wird das Urteil absehbar aber auch von wesentlicher Relevanz für die Kalkulation anderer Kommunalgebühren sein, insbesondere die Abfallgebühren.
Was war passiert?
Ein Grundstückseigentümer aus Oer-Erkenschwick in Nordrhein-Westfalen hatte gegen die Festsetzung von Abwassergebühren für das Jahr 2017 in Höhe von 599,85 EUR geklagt. Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen wies die Klage noch unter Berücksichtigung der bis dahin geltenden Rechtsprechung zurück. Der Kläger legte Berufung beim OVG Münster ein.
Mit Erfolg!
Die Entscheidung des OVG Münster
Das Kommunalabgabengesetz NRW („KAG NRW“) regelt die Grundsätze der Gebührenerhebung von Kommunen im Land NRW. Für die Gebührenkalkulation ist dabei insbesondere der § 6 KAG NRW relevant. Darin werden folgende Grundsätze aufgestellt:
In seinem Urteil hat das OVG Münster wichtige Grundaussagen getroffen, die nicht nur für die Gebührenkalkulation von Abwassergebühren, sondern ebenso für andere Gebührenkalkulationen (wie Abfallgebühren) von Relevanz sind. Dabei stellte das Gericht aufgrund zweier Kalkulationsfehler der Abwassergebühren in Oer-Erkenschwick einen Verstoß gegen das Kostenüberschreitungsverbot fest und hob den rechtswidrigen Gebührenbescheid auf.
Erster Kalkulationsfehler
Der erste zentrale Streitpunkt der Entscheidung betraf die Frage, ob in der kommunalen Gebührenkalkulation sowohl eine kalkulatorische Abschreibung des Anlagevermögens auf der Basis des Wiederbeschaffungszeitwertes als auch eine kalkulatorische Nominalverzinsung auf der Basis des Anschaffungsrestwertes angesetzt werden kann.
Das OVG Münster erkannte, dass dieser doppelte Ansatz sowohl einer kalkulatorischen Abschreibung als auch einer kalkulatorische Nominalverzinsung auf Grundlage einer Berechnung der Kosten nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen (§ 6 Abs. 2 S. 1 KAG NRW) grundsätzlich in Betracht kommen würde.
Eine solche Kalkulation verstieße aber gegen eine aus den §§ 75 Abs. 1 S. 1, 77 Abs. 2 Nr. 1 Gemeindeordnung NRW („GO NRW“) abzuleitende Zielvorgabe. Demnach sollen die zu vereinnahmenden Gebühren nicht mehr als die dauerhafte Betriebsfähigkeit der öffentlichen Einrichtung der Abwasserbeseitigung sicherstellen. Dieser Zielvorgabe werde widersprochen, indem die beschriebene Kalkulation zu einem doppelten Inflationsausgleich führe – einmal über den Wiederbeschaffungszeitwert als Abschreibungsbasis, einmal über den Nominalzinssatz.
Mit dieser Rechtsprechung gibt das Gericht seine bisherige Rechtsprechung ausdrücklich auf, in welcher eine solche Kalkulation als zulässig erachtet wurde. In seiner früheren Rechtsprechung war das OVG Münster noch davon ausgegangen, dass kalkulatorische Abschreibungen und kalkulatorische Zinsen unterschiedliche Zwecke verfolgten und deshalb in ihrer jeweiligen finanzwirtschaftlichen Funktion zu trennen seien. Das OVG Münster stellt die Vereinbarkeit mit der gesetzlichen Zielvorgabe nunmehr als vorrangig gegenüber den anerkannten betriebswirtschaftlichen Grundsätzen dar.
Diese Berechnungsgrundlagen sind in NRW nun bei jeder Gebührenkalkulation zu berücksichtigen und haben damit weitreichende Geltung.
Zweiter Kalkulationsfehler
Der zweite zentrale Streitpunkt der Entscheidung betraf die angemessene Höhe der kalkulatorischen Zinssätze nach dem § 6 Abs. 2 S. 4 KAG NRW bei der kommunalen Gebührenkalkulation.
Bislang hatte das OVG Münster angenommen, dass eine kalkulatorische Verzinsung des Eigen- und Fremdkapitals mit einem einheitlichen Nominalzinssatz, der sich aus dem fünfzigjährigen Durchschnitt der Emissionsrenditen für festverzinsliche Wertpapiere inländischer öffentlicher Emittenten zuzüglich eines (pauschalen) Zuschlags von 0,5 Prozentpunkten wegen regelmäßig höherer Kommunalkreditzinsen ergibt, angemessen sei.
Diesen Ansatz hat das OVG Münster nun ausdrücklich aufgegeben. Die Berechnung eines einheitlichen Nominalzinssatzes soll nach dem neuen Maßstab allein angemessen sein, wenn der zehnjährige Durchschnitt der Emissionsrenditen entsprechender Wertpapiere ohne einen (pauschalen) Zuschlag zugrunde gelegt werde.
Auch diese Kalkulationsgrundlage ist fortan bei der Berechnung von Gebühren zu berücksichtigen.
Fazit
Die Entscheidung des OVG Münster führt dazu, dass viele kommunale Kalkulationen der Abwassergebühren und in der Folge auch die entsprechenden Gebührenbescheide in NRW als rechtswidrig zu beurteilen sind, weil sie an Kalkulationsfehlern leiden. In vielen Kommunen wird deshalb eine Neukalkulation notwendig sein.
Da die Grundsätze zur Gebührenkalkulation nach § 6 Abs. 2 KAG NRW nicht allein für die Abwassergebühren, sondern auch für andere kommunale Gebühren wie die Abfall- und Straßenreinigungsgebühren gelten, sind auch diese Bereiche von der Entscheidung betroffen.
Ob sich die Entscheidung auch auf die Rechtmäßigkeit der Kalkulation von kommunalen Gebühren in anderen Bundesländern auswirken wird, bleibt mit Spannung abzuwarten. Insofern wäre zunächst zu prüfen, ob die jeweilige Rechtslage mit der in NRW vergleichbar ist.
Haben Sie Fragen im Zusammenhang mit kommunalen Gebühren? Sprechen Sie uns gerne an!