Der BGH hat am 08.10.2024 ein spektakuläres Urteil zur erfinderischen Tätigkeit bei Patenten gefällt (Az. X ZR 77/23 - Testosteronester). Danach sollen bei der Bewertung der erfinderischen Tätigkeit nicht nur technische Erwägungen eine Rolle spielen, sondern auch wirtschaftliche.
Das Streitpatent betraf eine Substanz (Testosteronester) zur Einstellung des Testosteronspiegels im menschlichen Körper. Testosteronester werden im Magen zerstört und eignen sich daher nicht für die orale Gabe. Es sind daher intramuskuläre Injektionen durch den behandelnden Arzt erforderlich. Bei vorbekannten Präparaten war die Gabe im Abstand von wenigen Tagen bis zu zwei bis drei Wochen erforderlich, was von vielen Patienten als belastend empfunden wurde und vom Patent deshalb als nachteilig bewertet wird. Ziel war es daher, eine Substanz zu formulieren, die zur intramuskulären Gabe geeignet ist und einen möglichst lange anhaltenden gleichbleibenden Testosteronspiegel gewährleistet. Hierzu sieht das Streitpatent eine Substanz vor, die zur intramuskulären Gabe geeignet ist und aus einem Testosteronester und einer Trägersubstanz bestehend aus Rizinusöl in einer Konzentration von 25-45% und einem Hilfslösungsmittel besteht. Das Rizinusöl dient dazu, den Testosteronester zu lösen und die Depotwirkung herbeizuführen. Das zusätzliche Hilfslösungsmittel ist erforderlich, weil Rizinusöl recht zähflüssig ist und so bei der Injektion Schmerzen auftreten können.
Im Stand der Technik war einerseits aus einer Studie bekannt, dass ein bestimmter Testosteronester (Testosteronundecanoat) gelöst in Rizinusöl eine vielversprechende Depotwirkung aufwies. In dieser Veröffentlichung wird auch erwähnt, dass die Injektionen langsam erfolgten, um Schmerzen zu verhindern. Weiter waren im Stand der Technik bereits zugelassene Testosteronpräparate bekannt, welche einen Gehalt an Rizinusöl von 60% und dem Hilfslösungsmittel Benzylbenzoat in einer Konzentration von 40% aufwiesen.
Die Klägerin, welche das Streitpatent angegriffen hatte, war der Ansicht, es habe für den Fachmann nahegelegen, ausgehend von diesem Stand der Technik auch eine Formulierung mit einem niedrigeren Gehalt an Rizinusöl zu identifizieren, welche bei gleichbleibender Depotwirkung eine noch bessere Injizierbarkeit gewährleisten würde.
Die beklagte Patentinhaberin hielt dem entgegen, zur Identifikation des beanspruchten Mischungsverhältnisses seien parallele klinische Studien zu verschiedenen Mischungsverhältnissen erforderlich gewesen, was zeit- und kostenintensiv gewesen sei. Der Fachmann hätte sich daher mit der – bereits bewährten – Formulierung im Verhältnis 60/40% zufriedengegeben.
Das Bundespatentgericht folgte der Ansicht der Klägerin und hat das Streitpatent wegen mangelnder erfinderischer Tätigkeit für nichtig erklärt.
Gemäß Art. 56 EPÜ und § 4 PatG ist für die Annahme einer erfinderischen Tätigkeit erforderlich, dass der Gegenstand der Erfindung sich für den Fachmann nicht in naheliegender Weise aus dem Stand der Technik ergibt. Wer der Ansicht ist, dass ein erteiltes Patent mangels erfinderischer Tätigkeit nichtig ist, muss daher konkret begründen, warum ausgehend von Entgegenhaltungen aus dem Stand der Technik der Gegenstand der Erfindung nahegelegen hat, ggf. ergänzt durch nähere Ausführungen zum allgemeinen Fachwissen des Fachmannes.
Der BGH hat die Entscheidung des Bundespatentgerichts aufgehoben und das Streitpatent wiederhergestellt. Zur Begründung heißt es, der Fachmann hätte mangels konkreter Erfolgserwartung, dass ein niedrigerer Anteil an Rizinusöl zu einer gleichbleibenden oder sogar höheren Depotwirkung führen könnte, keine zeit- und kostenintensiven parallelen klinischen Studien durchgeführt.
Im Leitsatz heißt es:
Die Anforderungen an eine angemessene Erfolgserwartung lassen sich nicht allgemeingültig formulieren. Sie sind jeweils im Einzelfall unter Berücksichtigung des in Rede stehenden Fachgebiets, der Größe des Anreizes für den Fachmann, des erforderlichen Aufwands für das Beschreiten und Verfolgen eines bestimmten Ansatzes und der gegebenenfalls in Betracht kommenden Alternativen sowie ihrer jeweiligen Vor- und Nachteile zu bestimmen (Bestätigung von BGH, Urteil vom 16. April 2019 – X ZR 59/17, GRUR 2019, 1032 Rn. 31 – Fulvestrant; Urteil vom 7. Juli 2020 – X ZR 150/18, GRUR 2020, 1178 Rn. 108 – Pemetrexed II; Urteil vom 26. Januar 2021 – X ZR 24/19, GRUR 2021, 696 Rn. 51 – Phytase).
Die Entscheidung mag im Ergebnis durchaus richtig sein. Ihre Begründung überzeugt indes nicht. Zwar dient das Patentrecht nicht zuletzt dem Investitionsschutz: Wer eine Erfindung gemacht hat und sie durch die Patentanmeldung offenlegt, soll hiervon profitieren, sei es durch eine Monopolstellung, sei es durch Lizenzeinnahmen. Die Entscheidung verkennt aber, dass Wirtschaftlichkeitserwägungen oder die Frage, welcher Zeitaufwand erforderlich ist, bei der Bewertung der erfinderischen Tätigkeit keine Rolle spielen. Viele Forscher sind Idealisten. Gerade weil die Erfolgswahrscheinlichkeit gering, aber der Erfolg nicht ausgeschlossen ist, beschäftigen sie sich oft jahrelang mit einem Thema.
Man denke an die Entwicklung der mRNA-Impfstoffe. Frau Prof. Karikó wurde jahrelang belächelt, weil (fast) niemand glaubte, dass Medikamente auf mRNA-Basis jemals funktionieren würden. 2023 erhielt sie den Nobelpreis für Physiologie oder Medizin, und Biontech und Moderna entwickelten in der CoVid19-Pandemie erfolgreich Impfstoffe auf Basis dieser Technologie.
Demgegenüber stehen „Zufallsfunde“ wie Viagra oder Penicillin, welche (ohne die Fähigkeit der Forscher, die die entsprechenden Wirkmechanismen erkannten und weiterverfolgten, herabwürdigen zu wollen) nur einen geringen Forschungsaufwand erforderten, jedoch enorme (wirtschaftliche) Fortschritte brachten. Sildenafil war ursprünglich zur Behandlung von Bluthochdruck und Angina pectoris gedacht. Hier zeigte es aber nur eine mäßige Wirksamkeit. Jedoch wurde beobachtet, dass bei Patienten, die gleichzeitig an einer erektilen Dysfunktion litten, die Potenz wiederhergestellt werden konnte. Alexander Fleming entdeckte das Penicillin zufällig, weil er untersuchte, warum Bakterien in einer Petrischale abgetötet wurden und dabei bemerkte, dass die Petrischale nicht richtig gespült und mit Schimmelpilzen verunreinigt war.
Ob eine Erfindung auf einer erfinderischen Tätigkeit beruht, ist daher allein technisch zu bewerten. Wie eingangs erwähnt lautet die Frage: Gibt der Stand der Technik in Verbindung mit dem allgemeinen Fachwissen Anlass dazu, in Richtung der Erfindung weiterzudenken? Nur weil Forschung an einer bestimmten Technologie teuer ist und die Marktchancen gering sind, heißt dies nicht, dass Wissenschaftler nicht forschen, wenn sie die Chance sehen, dass ihre Idee funktioniert. Die Entscheidung unterstellt hingegen, dass Forscher stets wirtschaftlich handeln und bei geringer Erfolgswahrscheinlichkeit von einer Idee Abstand nehmen. Dies ist (zum Glück) nicht der Fall.
Ob sich der Fachmann vorliegend veranlasst gesehen hätte, sich die Mühe zu machen, zu erforschen, ob sich auch mit einem geringeren Rizinusgehalt die gewünschten Ergebnisse erzielen lassen, hätte der BGH also anhand objektiver Anhaltspunkte im Stand der Technik, flankiert vom allgemeinen Fachwissen des Fachmannes ermitteln müssen, nicht anhand wirtschaftlicher Gesichtspunkte oder der Frage, wie lange die Entwicklung gedauert hätte.
Bei Fragen zum Patentrecht unterstützen Sie unsere Experten aus der Praxisgruppe „Geistiges Eigentum, Medien und Informationstechnologie“ gerne.