Während eines laufenden Verfahrens kann sich für den Auftraggeber die Frage stellen, ob zur Korrektur eigener Verfahrensfehler eine Zurückversetzung des Verfahrens erforderlich oder zumindest sinnvoll ist. Zwar mag der Auftraggeber erwägen, das Vergabeverfahren – bei bestehender Beschaffungsabsicht – in das Verfahrensstadium vor dessen Bekanntmachung zurückzuversetzen, um grundlegende Mängel der Ausschreibung zu heilen und eine Aufhebung zu umgehen. Allerdings hat die VK Bund in ihrem Beschluss vom 10.03.2020 (VK 2-9/20, abrufbar unter folgendem Link) aktuell in besonderer Deutlichkeit noch einmal herausgestellt, dass eine vollständige Zurückversetzung im Sinne von „Alles auf Anfang“ einer Aufhebung des Vergabeverfahrens entspricht und daher nur dann zulässig ist, wenn ein Aufhebungsgrund nach der maßgeblichen Verfahrensordnung gegeben ist.
Was war passiert?
Die Auftraggeberin und spätere Antragsgegnerin schrieb im Wege eines offenen Verfahrens einen Bauauftrag für die Zugabe von Steinen bestimmter Qualität und Größe in den Rhein, um die Sohle des Flusses zu stabilisieren, europaweit aus.
Neben dem Preis sollten insbesondere auch qualitative Zuschlagskriterien, unter anderem das Kriterium „Materialverfügbarkeit“ bewertet werden.
Nach Versand der Vergabeunterlagen und vor Abgabe der Angebote stellten mehrere Bieter Fragen, unter anderem zum Kriterium „Materialverfügbarkeit“. Die Bieterfragen wurden jeweils nur bilateral beantwortet, d. h., es erfolgte keine Weiterleitung der Fragen und Antworten an die anderen Bieter.
Mehrere Bieter, darunter die spätere Antragstellerin, gaben ein Angebot ab. Nach Ablauf der Angebotsfrist teilte die Auftraggeberin den Bietern mit, dass sie beabsichtige, das Vergabeverfahren aufgrund des fortbestehenden Beschaffungsbedarfs in den Stand vor Auftragsbekanntmachung zurückzuversetzen. Sie habe festgestellt, dass auf der Grundlage der bekanntgegebenen Zuschlagskriterien ein Zuschlag nicht vergaberechtskonform erteilt werden könne, weshalb die entsprechende Zurückversetzung gerechtfertigt sei.
Daraufhin rügte die spätere Antragstellerin die Aufhebung des Vergabeverfahrens als vergaberechtswidrig, weil es sich um eine Scheinaufhebung aufgrund fortbestehender Beschaffungsabsicht handele. Im Übrigen seien die Zuschlagskriterien eindeutig.
Nach Zurückweisung der Rüge durch die Auftraggeberin leitete die Antragstellerin ein Vergabenachprüfungsverfahren bei der VK Bund ein.
Entscheidung der VK Bund: Zwar entspricht die Zurückversetzung in das Stadium vor der Bekanntmachung einer vollständigen Aufhebung, allerdings ist diese vorliegend rechtmäßig!
Ohne Erfolg!
Zunächst stellt die VK Bund heraus, dass die Zurückversetzung des Vergabeverfahrens in das Verfahrensstadium vor dessen Bekanntmachung materiell betrachtet einer vollständigen Aufhebung bei fortbestehender Beschaffungsabsicht entspreche. Die Auftraggeberin beabsichtige mit der Aufhebung die Korrektur eigener Verfahrensfehler und eine Klarstellung der Zuschlagskriterien, insbesondere des Kriteriums „Materialverfügbarkeit“, um auf diese Weise eine rechtmäßige Angebotswertung zu gewährleisten. Hingegen sollten die inhaltlichen Vorgaben der Leistungsbeschreibung unverändert bleiben.
Bei dieser Sachlage, d. h. einer Neuausschreibung bei unveränderter Beschaffungsabsicht, sei eine Aufhebung des Vergabeverfahrens nur dann zulässig, wenn ein Aufhebungsgrund nach der jeweiligen Vergabeordnung vorliege. Im hiesigen Fall habe die Ausschreibung gemäß § 17 EU Abs. 1 Nr. 2 und Nr. 3 VOB/A aufgehoben werden dürfen, weil diese der Korrektur von wertungsrelevanten Verfahrensfehlern diene und kein milderes Mittel ersichtlich sei, welches die Auftraggeberin vorrangig habe ergreifen müssen. In diesem Sinne begründe die unterlassene Weiterleitung der Bieterfragen und -antworten einen Verstoß gegen § 12a EU Abs. 3 VOB/A, wonach der Auftraggeber verpflichtet sei, Auskünfte über die Vergabeunterlagen vor Ablauf der Angebotsfrist allen Unternehmen in gleicher Weise zu erteilen. Ferner seien die Vergabeunterlagen jedenfalls hinsichtlich der Festlegungen zum Zuschlagskriterium „Materialverfügbarkeit“ entgegen § 127 Abs. 4 Satz 1 GWB nicht hinreichend bestimmt. Insoweit handele es sich um schwerwiegende Vergaberechtsverstöße, die sich auf ein qualitatives Wertungskriterium in einem komplexen Bauauftrag und nicht lediglich auf einzelne, isoliert neu kalkulierbare Preispositionen bezögen. Daher sei nicht zu beanstanden, dass die Auftraggeberin von einer nur teilweisen Zurückversetzung der Ausschreibung als vermeintlich milderem Mittel zur wirksamen Fehlerkorrektur abgesehen habe.
Fazit
Aus der Entscheidung der VK Bund folgen gleich mehrere interessante Aspekte.
Zunächst ist eine Zurückversetzung eines Vergabeverfahrens in den Stand vor Bekanntmachung gleichzusetzen mit einer vollständigen Aufhebung bei fortbestehender Beschaffungsabsicht.
Des Weiteren ist ein solches Vorgehen nur dann zulässig, wenn ein Aufhebungsgrund nach der jeweils maßgeblichen Vergabeordnung besteht. Ansonsten besteht insbesondere die Gefahr, dass Bieter erfolgreich Schadensersatzansprüche, insbesondere gerichtet auf das negative Interesse (vor allem Kosten für die Teilnahme am Vergabeverfahren bzw. die Erstellung ihres Angebots), geltend machen.
Schlussendlich wird noch einmal betont, dass Bieterfragen stets transparent und diskriminierungsfrei gegenüber allen Bietern zu beantworten sind.
Haben Sie Fragen im Zusammenhang mit der Vorbereitung, Durchführung, Zurückversetzung oder Aufhebung von Vergabeverfahren? Wir beraten Sie gerne!