Immer wieder sind Aufhebungen von Ausschreibungen Gegenstand von Nachprüfungsverfahren. Häufig stellt sich in diesen die Frage, ob die Aufhebung von einem Aufhebungsgrund der jeweiligen Vergabeordnung gedeckt und damit rechtmäßig erfolgt ist oder ob es an einem solchen fehlt, so dass die Aufhebung vergaberechtwidrig war. In die Liste dieser Entscheidungen reiht sich der Beschluss der VK Westfalen vom 09.07.2024 (Az. VK 2 17/24, Leitsatz abrufbar unter folgendem Link) ein. In dieser lesenswerten Entscheidung hat sich die VK Westfalen vor allem zu der Frage geäußert, ob bzw. unter welchen Voraussetzungen Auftraggeber eine rechtmäßige Aufhebung im Baubereich auf eine Verschiebung der Bauzeit bzw. die Nichtfertigstellung eines vorherigen Bauabschnitts stützen können. Diese Entscheidung können und wollen wir Ihnen natürlich nicht vorenthalten…
Der Auftraggeber und spätere Antragsgegner schrieb den Rückbau eines Teils einer Justizvollzugsanstalt und die damit einhergehenden Abbrucharbeiten im offenen Verfahren nach VOB/A-EU aus. Der Leistungsbeschreibung konnte entnommen werden, dass der Rückbau und die damit einhergehenden Abbrucharbeiten den zweiten Bauabschnitt einer Gesamtbaumaßnahme betrafen. Der Abbruch stand im Zusammenhang mit dem Neubau der Justizvollzugsanstalt. Was im ersten Bauabschnitt passieren und wie die Bauabschnitte (zeitlich) zusammenhängen sollten, ergab sich aus den den Bietern zur Verfügung gestellten Vergabeunterlagen nicht. Es wurde lediglich mitgeteilt, dass die Ausführung der Leistungen voraussichtlich zwischen dem 30.01.2024 bis 04.11.2024 zu erfolgen habe.
Es kam zu Bauzeitverzögerungen im ersten Bauabschnitt, sodass der avisierte Beginn der Abbrucharbeiten Ende Januar 2024 nicht zu halten war. Der Auftraggeber hob daraufhin das Vergabeverfahren nach § 17 Abs. 1 Nr. 2 VOB/A-EU auf. Zur Begründung führte er aus, dass die Vergabeunterlagen der grundlegenden Überarbeitung bedürften, da sich die für die Abrissarbeiten notwendige Fertigstellung des ersten Bauabschnitts aufgrund unvorhergesehener Ereignisse um mehrere Monate verschiebe. Sobald die neuen Ausführungstermine für die Abbrucharbeiten feststünden, würden die Leistungen neu ausgeschrieben.
Der Antragsgegner half der Rüge der Antragstellerin die Aufhebung betreffend nicht ab. Vielmehr teilte er in der Nichtabhilfe mit, dass der Beginn der Abrissarbeiten die Fertigstellung des ersten Bauabschnitts und den Umzug der Justizvollzugsanstalt in das neue Hafthaus voraussetze. Da sich die Fertigstellung und Inbetriebnahme – wie er nunmehr nachträglich erfahren habe – auf unbestimmte Zeit verschöben, sei eine wesentliche Bedingung der Ausschreibung – vergleichbar mit einer Geschäftsgrundlage – nachträglich entfallen.
Daraufhin legte die Antragstellerin einen Nachprüfungsantrag ein und beantragte, dem Antragsgegner aufzugeben, die Aufhebung der Ausschreibung rückgängig zu machen und das Vergabeverfahren in den Stand vor Aufhebung der Ausschreibung zurückzuversetzen und fortzuführen, bzw. hilfsweise festzustellen, dass die Aufhebung der Ausschreibung rechtswidrig war.
Mit Erfolg, zumindest hinsichtlich des Hilfsantrags!
Zunächst hält die VK Westfalen fest, dass der auf die Aufhebung der Aufhebung gerichtete Hauptantrag unbegründet sei. Der Antragsgegner habe das Vergabeverfahren wirksam aufgehoben. Ausgehend von der wirtschaftlichen Dispositionsfreiheit des öffentlichen Auftraggebers hätten Bieter grundsätzlich keinen Anspruch auf die Erteilung des Zuschlags. Ein öffentlicher Auftraggeber handele bei der Befriedigung seines Beschaffungsbedarfs in der Rechtsform des Privatrechts und entscheide aufgrund der auch ihm zukommenden Privatautonomie, ob und zu welchen Bedingungen er einen Vertrag eingehe oder von diesem Abstand nehme. Dementsprechend sei der Anspruch des Bieters aus § 97 Abs. 6 GWB nicht auf die Beendigung des Vergabeverfahrens durch Zuschlag gerichtet, sondern nur darauf, dass der Auftraggeber die Bestimmungen über das Vergabeverfahren einhalte. Nur in den von der Rechtsprechung anerkannten (krassen) Sonderfällen der Scheinaufhebung bzw. der willkürlichen Aufhebung ohne sachliche Gründe bestehe ausnahmsweise ein Anspruch auf Aufhebung der Aufhebung. Insoweit sei jedoch vorliegend weder etwas vorgetragen noch ersichtlich.
Allerdings sei, so die VK Rheinland, der auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Aufhebung gerichtet Hilfsantrag begründet. Denn die Aufhebung sei rechtswidrig gewesen, da es an einem Aufhebungsgrund im Sinne von § 17 Abs. 1 Nr. 1-3 VOB/A-EU fehle. Bei der Prüfung eines die Aufhebung rechtfertigenden Grundes sei ein strenger Maßstab anzulegen. Es sei das Vertrauen der Bieter dahingehend zu berücksichtigen, dass diese im Rahmen der vergaberechtlichen Bestimmungen eine realistische Chance auf Amortisation ihrer Aufwendungen zur Ausarbeitung eines sorgfältig kalkulierten Angebots haben und dass diese Chance nur unter den in § 17 VOB/A-EU genannten besonderen Voraussetzungen selbst dann entfallen könne, wenn der jeweilige Bieter das wirtschaftlichste Angebot abgegeben habe. Im Interesse einer fairen Risikobegrenzung verdiene der Bieter mit dem wirtschaftlichsten Angebot einen Vertrauensschutz davor, dass seine Amortisationschance nicht durch zusätzliche Risiken vollständig beseitigt würde, welche in den vergaberechtlichen Bedingungen keine Grundlage fänden. Nach ihrer Funktion könnten die in der Vorschrift genannten Aufhebungsgründe auch nur dann eingreifen, wenn sie erst nach Beginn der Ausschreibung eingetreten seien oder dem Ausschreibenden jedenfalls vorher nicht bekannt gewesen sein könnten.
Entgegen der Auffassung des Antragsgegners hätten die Vergabeunterlagen vorliegend infolge der Verschiebung der Ausführungsfristen keiner grundlegenden Änderung im Sinne des § 17 Abs. 1 Nr. 2 VOB/A-EU bedurft. Eine Änderung sei grundlegend, wenn die Durchführung des Auftrags auf Grundlage der bekannt gemachten Vergabeunterlagen nicht mehr möglich bzw. für den späteren Auftragnehmer oder den Auftraggeber nicht mehr zumutbar sei. Was den Beteiligten zumutbar sei, ergebe sich – ähnlich wie bei § 313 Abs. 1 BGB – aus einer Interessenabwägung. Diese falle vorliegend zu Gunsten der Antragstellerin aus. Dem Antragsgegner sei die Auftragsdurchführung zumutbar.
Insoweit sei, so die VK Westfalen, zunächst zu berücksichtigen, dass der öffentliche Auftraggeber eine rechtmäßige Aufhebung grundsätzlich nicht allein auf die Verschiebung der Bauzeit stützen könne. Auch werde selbst durch eine unter Umständen nach § 2 Abs. 5 VOB/B veranlasste Preisanpassung der Vertrag grundsätzlich weder erweitert noch dessen wirtschaftliches Gleichgewicht gestört.
Etwas anderes könne sich nur aus den besonderen Umständen des Einzelfalls ergeben, die jedoch nicht vorlägen. Soweit der Antragsgegner sich darauf berufe, dass der erste Bauabschnitt vor Beginn der Abbrucharbeiten im zweiten Bauabschnitt fertiggestellt und abgenommen sein müsse, sei dies in der Interessenabwägung nicht zu berücksichtigen. Bei der Fertigstellung des ersten Bauabschnitts handele es sich lediglich um eine einseitige Erwartung des Antragsgegners. Diese wäre nur dann in die Interessenabwägung einzubeziehen, wenn der Antragsgegner dem Wettbewerb diese im Vorfeld mitgeteilt hätte. Denn nur dann hätte sich ein potenzieller Auftragnehmer auf eine solche Bedingung einstellen können. Dass die Bauabschnitte derart miteinander verbunden seien, dass die Abbrucharbeiten erst nach Freiwerden der Baufelder des zweiten Bauabschnitts beginnen könnten, habe der Antragsgegner dem Wettbewerb nicht mitgeteilt. Da der Antragsgegner den Zusammenhang zwischen erstem und zweitem Bauabschnitt nicht transparent gemacht habe, seien auch die Gründe für die Bauzeitverschiebung des ersten Bauabschnitts unbeachtlich.
Die Entscheidung der VK Westfalen bekräftigt im Sinne der ständigen Rechtsprechung zum einen, dass der Auftraggeber grundsätzlich nicht zur Zuschlagserteilung verpflichtet ist. Daher kommt ein Anspruch auf Aufhebung der Aufhebung nur in krassen Sonderfällen der Scheinaufhebung bzw. eine sachgrundlosen Willküraufhebung in Betracht.
Zum anderen arbeitet die VK Westfalen heraus, dass im Rahmen der Interessenabwägung beim Aufhebungsgrund des § 17 Abs. 1 Nr. 2 VOB/A-EU einseitige Erwartungen des Auftraggebers, die sich nachträglich nicht erfüllen, aber nicht transparent Bestandteil der Ausschreibung geworden sind, unbeachtlich sind. Vorliegend konnte sich der Auftraggeber dementsprechend nicht darauf berufen, dass die ausgeschriebenen Abbruchleistungen aufgrund der verzögerten Fertigstellung des ersten Bauabschnitts noch nicht ausgeführt werden konnten. Denn die entsprechende Abhängigkeit hatte der Auftraggeber nicht in den Vergabeunterlagen mitgeteilt, sondern sich erst später – im Zuge der Begründung der gerügten Aufhebungsentscheidung – darauf berufen.
Für die Vergabepraxis macht die Entscheidung noch einmal deutlich, wie wichtig es für eine etwaige Aufhebungsentscheidung ist, dass der Auftraggeber (zeitliche) Abhängigkeiten von Bauabschnitten oder Gewerken transparent in den Vergabeunterlagen mitteilt. Ansonsten läuft er Gefahr, dass die Aufhebung zwar wirksam, aber rechtswidrig ist und er von den Bietern zumindest auf Ersatz des negativen Interesses (Kosten der Beteiligung der Ausschreibung) in Anspruch genommen wird.
Sie haben Fragen hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung Ihrer Vergabeunterlagen oder mit Blick auf die Aufhebung einer Ausschreibung? Wir beraten Sie gerne!